Donnerstag, 16. Juli 2009

EU-Beitrittsgesuch - Nackte Not treibt die Isländer in die EU



Von André Anwar, Reykjavik | © ZEIT ONLINE

"Mehrmals wurde die Abstimmung verschoben, am Donnerstag war es schließlich soweit: Islands Parlament votierte mit knapper Mehrheit für ein Beitrittsgesuch an die EU. Vor allem auf den Euro setzt das wirtschaftlich völlig am Boden liegende Land große Hoffnungen. Es war eine engagierte Debatte, die die Abgeordneten seit Montag im Althing, dem isländischen Parlament, über die Zukunft ihres Landes geführt hatten, das durch die Finanzkrise und einen gerade noch abgewendeten Staatsbankrott schwer erschüttert wurde. Die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Johanna Sigurdardóttir appellierte an die Volksvertreter, dass das Land, dessen Währung nach dem Zusammenbruch und der Zwangsverstaatlichung der drei größten Banken im Herbst völlig am Boden liegt, nur noch durch einen Anschluss an die Europäische Union und vor allem den Euro zu retten sei. Tatsächlich gilt der Verfall der isländischen Krone, der kleinsten selbstständigen Währung weltweit, als größtes Problem für die rund 320.000 Einwohner zählende Nordatlantikinsel. Weil Brüssel den Isländern nur den Euro zusammen mit einer Mitgliedschaft geben möchte, und die Norweger eine Einführung ihrer Krone in Island abgelehnt haben, sind viele an sich EU-kritische Isländer nun bereit, der Union beizutreten. Bisher hatte die Mehrheit der Einwohner aus Angst vor einer Gefährdung der Fischereirechte und der Agrarsubventionen, aber auch vor einer generellen Bevormundung durch Brüssel einen EU-Beitritt abgelehnt. Der völlige Staatsbankrott Islands konnte im Herbst jedoch nur durch Milliardenkredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) und europäischer Länder abgewendet werden. Unter diesem Eindruck stimmten die Abgeordneten schließlich am Mittwochabend der Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen zu. Ein Beitritt 2011 oder 2012 muss jedoch noch durch eine Volksabstimmung abgesegnet werden. Sigurdardóttir kündigte an, das Beitrittsgesuch beim nächsten Außenministerrat der Union am 27. Juli in Brüssel durch Außenminister Össur Skarphedinsson überreichen zu lassen. Nach Aussagen aus EU-Kreisen könnte die Inselrepublik zwischen 2011 und 2013 aufgenommen werden. Bis zuletzt wackelte im Althing die Mehrheit für das EU-Beitrittsgesuch. Mehrere Abgeordnete von Sigurdardóttirs linksgrünem Koalitionspartner waren dagegen, zudem machten proeuropäische Teile der Opposition ihre Zustimmung davon abhängig, dass Entschädigungen für britische und niederländische Kunden der isländischen Banken neu verhandelt werden. Bei der von jahrelanger Vollbeschäftigung verwöhnten isländischen Bevölkerung wird der Unmut derweil immer größer. Der Kleinunternehmer Björn Mikkaelsson setzte sich am Wochenende in einen Baubagger und riss einfach sein aus Kanada importiertes, völlig überschuldetes Einfamilienhaus südlich von Reykjavik ab. Dann setzte er sich in seinen ebenso kreditfinanzierten BMW und fuhr in die Trümmer seines Hauses. „Die Banken haben mich völlig unfair behandelt“, klagt er. Die Kosten der auf Island verbreiteten Fremdwährungskredite für Häuser und Autos sind durch den Währungsverfall astronomisch in die Höhe geschossen. Auch wer keine Kredite hat, muss den Gürtel sehr eng schnallen. Steuern wurden erhöht, und auch die Lebenshaltungskosten sind stark gestiegen, weil ein Großteil der Waren importiert werden muss. Zudem erlaubten die Gewerkschaften den in Not geratenen Arbeitgebern auch noch deutliche Lohnkürzungen. Innerhalb weniger Monate stieg die Arbeitslosenrate von rund einem auf fast neun Prozent. Den kürzlich noch boomenden Bausektor traf es zuerst, nun erstreckt sie sich auf alle Branchen. Viele qualifizierte Arbeitskräfte werden das Land wohl verlassen müssen. Das bestätigt Frank Friedriksson vom Arbeitsamt. „Es gibt eine größere Auswanderungswelle, vor allem nach Norwegen“, sagt er. Auch von den rund 20.000 zumeist polnischen Gastarbeitern haben Tausende die Insel wieder verlassen. Die Wirtschaft ist seit dem Zusammenbruch des bis zur Krise so bedeutenden Finanzsektors zu ungefähr je einem Drittel vom Fisch, dem Aluminiumexport und dem Tourismus abhängig. „Damit diese Bereiche aber weiter funktionieren, brauchen wir eine funktionierende Währung und die EU. Ich hoffe, dass meine Landsleute das bei der Volksabstimmung nicht wieder vergessen haben. Die Möglichkeit gibt es leider“, sagt der isländische EU-Experte Audunn Arnorsson. "

Wozu Finanzkrisen doch gut sind, wie schon Irland zuvor, begibt sich Island aus wirtschaftlicher Not in die Abhängigkeit der EU. Und was sie dort erwartet, kann im vorangegangenen Artikel nachgelesen werden.

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