Montag, 5. Oktober 2009

Gregor Gysi, IM "Notar" und ein Bericht des Spiegel 1992




"Seit die Archive geöffnet sind, entdecken die Ostdeutschen in den Horror-Akten der Staatssicherheit, was der SED-Staat ihnen wirklich angetan hat: Nun geraten nicht nur Ärzte als Stasi-Helfer in Verdacht, sondern auch Anwälte der einstigen DDR-Opposition. Wer war der Spitzel mit dem Decknamen "Notar"? Etwa Gregor Gysi? Nicht einmal den Anwälten konnten die SED-Untertanen trauen. Einen Schock, erlebten in den letzten Tagen ehemalige Mandanten des DDR-Anwalts und heutigen PDS-Chefs Gregor Gysi. Durch die Akten der ehemaligen Dissidenten Bärbel Bohley und Gerd Poppe geistert ein Stasi-Mitarbeiter unter dem Decknamen "Notar". So steht unter Spitzelverdacht nun einer, der bislang als Jurist mit blütenweißer Weste und als eine der wenigen Vertrauenspersonen der DDR-Oppositionellen galt. Das Vertrauen in Gysi ist hin. Aus seiner Kanzlei, so belegen Unterlagen, die dem SPIEGEL vorliegen, sind vertrauliche Vier-Augen-Gespräche ins Mielke-Ministerium berichtet worden.

Ehemalige Gysi-Mandanten befürchten nun, daß ihr Anwalt sie ebenso verraten hat, wie es vermutlich der einstige Chef des Demokratischen Aufbruchs und Rechtsanwalt Wolfgang Schnur sowie der letzte DDR-Ministerpräsident und Rechtsanwalt Lothar de Maiziere, Deckname "Czerni", mit ihren Vertrauten getan haben. Die einst vertrauenswürdigen Anwälte der DDR, so steht zu erwarten, werden schon in den nächsten Tagen ebenso mit neuen Informationen aus den Akten ihrer Opfer konfrontiert werden wie Ende vergangener Woche der einstige Chef der DDR-SPD Ibrahim Böhme. Auch er war, tiefer als bisher bekannt, in Mielkes Schnüffeldienst verstrickt.

Der ehemalige DDR-Dissident und Liedermacher Wolf Biermann beschuldigt den Juristen Gregor Gysi, wie schon zuvor den Dichter Anderson, verschlüsselt, aber unzweideutig als Täter: Wer unter dem Decknamen "Notar" gespitzelt habe, solle nun nicht im Bonner Parlament den Demokraten mimen (siehe Seite 158). In den Akten der ehemaligen Gysi-Mandanten finden sich Berichte eines Inoffiziellen Mitarbeiters mit dem Decknamen "Notar" an die MfS-Hauptabteilung XX/9, die für die "Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit" zuständig war. Mit geschwätziger Genauigkeit gibt IM "Notar" Gespräche wieder, die Gysi unter vier Augen oder am Telefon mit seinen Mandanten geführt hat. So wird in einem "Vermerk über eine telefonische Rücksprache von Frau Bärbel Bohley mit Rechtsanwalt Dr. Gysi am 14.7.1988" in aller Breite wiedergegeben, wie die Bürgerrechtlerin, die nach der Rosa-Luxemburg-Demonstration am 17. Januar zunächst verhaftet und dann für ein halbes Jahr nach Großbritannien abgeschoben worden war, ihre Rückkehr in die DDR besprach:

" Am Abend des 14.7.1988 gegen 20.00 Uhr rief Frau "
" Bohley im Büro von Rechtsanwalt Dr. Gysi an, um diesen zu "
" sprechen. Dabei teilte sie Rechtsanwalt Dr. Gysi mit, daß "
" sie am 15.7.1988 nach Italien fliege und am 30.7.1988 "
" nach London "
" zurückkehre . . . Es sei geplant, daß sie über Prag in "
" die DDR zurückkehre. "
" Frau Bohley teilte ferner mit, daß ihr daran gelegen "
" wäre, von Rechtsanwalt Dr. Gysi in Prag abgeholt zu "
" werden. Sie habe gehört, daß Vertreter der Kirche sie "
" abholen wollten, was ihr nicht so gefiele. Sie würde aber "
" auch diesen Weg akzeptieren. "
" Da Einzelheiten nicht besprochen werden konnten und "
" Rechtsanwalt Dr. Gysi um eine Aufrechterhaltung des "
" Kontaktes bat, sicherte Frau Bohley zu, ihn in der "
" nächsten Woche (Montag oder Donnerstag) aus Italien "
" anzurufen. "

Ausweislich des Stasi-Archivblatts handelt es sich um die "Abschrift eines IM-Berichtes", mithin nicht um eine heimlich belauschte Unterhaltung - nach Stasi-Brauch wären Erkenntnisse durch Telefon-Überwachung oder Wanzen im Zimmer mit entsprechenden Kürzeln kenntlich gemacht worden. Nicht ungewöhnlich wäre, falls Gysi der IM "Notar" gewesen sein sollte, daß er von sich selbst in der dritten Person spricht - so wurde es auch in vielen anderen IM-Berichten praktiziert. IM "Notar" hat jedoch nicht nur Gesprächsinhalte an die Stasi weitergetragen, sondern auch selbst juristische Überlegungen angestellt. Das läßt den Schluß zu, daß der Urheber der IM-Berichte selbst fundierte Rechtskenntnisse haben mußte. So erörtert der Informant im selben Vermerk, mit welcher Begründung das nach den Januar-Vorfällen eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen Bärbel Bohley hätte eingestellt werden können. Der "Einstellungsgrund", sinniert der IM, habe "eine gewisse Bedeutung, weil bei bestimmten Einstellungsgründen Frau Bohley verlangen könnte, daß ein Antrag auf Haftentschädigung gestellt wird".

Der IM scheint bemüht, dem Staat den Schadensersatz ersparen zu helfen. Der Passus kann allerdings auch als Aufforderung an die Stasi-Justiz verstanden werden, den Verteidiger offiziell über die Einstellung des Verfahrens zu informieren, damit er "eine exakte juristische Belehrung von Frau Bohley vornehmen" konnte. Aus den Akten ergibt sich bislang kein zwingender Beweis, daß Gysi mit "IM Notar" identisch sein muß. Das wird vermutlich auch so bleiben: Die Hinterlassenschaft des MfS hat inzwischen erhebliche Lücken. Ungezählte wichtige Akten sind in der turbulenten Wendezeit und in den Monaten danach gezielt zerrissen, verkollert oder verbrannt worden; die Namenskarten der bedeutendsten IM und "Offiziere im besonderen Einsatz" (OibE) wurden von MfS-Mitarbeitern gezogen und vernichtet, so daß viele Spuren auf die geheimsten Täter nur mühsam oder gar nicht mehr gefunden werden können. Bereits im Oktober 1989, Honecker war gerade gestürzt, begannen Stasi-Einheiten mit der systematischen Vernichtung von Akten. Im Schreiben einer Kreisdienststelle etwa wird gefordert, "alles dafür zu tun, daß das beseitigt oder sicher deponiert wird, was, wenn es der Öffentlichkeit zur Kenntnis gerät, dem MfS sehr schaden und bei unseren Menschen zu nicht auszudenkenden negativen Auswirkungen führen würde".

Im November und Dezember 1989 ergingen von Generalleutnant Wolfgang Schwanitz detaillierte Anweisungen an alle Diensteinheiten des MfS, welche Unterlagen vernichtet oder sicher ausgelagert werden müßten. Dabei ging es der in Bedrängnis geratenen Geheimtruppe vornehmlich um solche "Materialien und Informationen", die zur "Gewährleistung des zuverlässigen Quellenschutzes und der Geheimhaltung spezifischer operativer Mittel, Methoden bzw. Arbeitsergebnisse" verschwinden mußten. Zur Vernichtung freigegeben wurden speziell ganze Komplexe aus der "Vorverdichtung-, Such- und Hinweiskartei", mit deren Hilfe Täter und deren Taten hätten gefunden werden können. Auch dabei ging es gelegentlich ordentlich deutsch zu: "Die Löschung von Einzelpersonen von Sicherungsvorgängen", heißt es in einer Dienstanweisung des MfS-Chefs von Erfurt, "hat mit Form 5a (Löschauftrag) bei gleichzeitiger Übersendung der Indexblätter zu erfolgen. Löschungen größeren Umfanges von Sicherungsvorgängen können listenmäßig aufbereitet . . . werden." Für den Reißwolf bestimmt waren auch "Unterlagen über Wahlen zu Volksvertretungen", "Rapporte" der Volkspolizei und des MfS, "operatives Schriftgut", etwa "IM-Berichte", sowie Nachweise über Inoffizielle Mitarbeiter und sogenannte Gesellschaftliche Mitarbeiter.

Deshalb hat Gysi jetzt auch Probleme, seine Unschuld zu beweisen. So beteuerte er zwar gegenüber dem SPIEGEL, "zu keinem Zeitpunkt in meinem Leben IM des MfS" gewesen zu sein, "das steht hundertprozentig fest". Aber das, ist ihm klar, "weiß natürlich nur ich allein". Zu seiner Entlastung führt Gysi an, er habe "andere Möglichkeiten" gehabt, als mit der Stasi zu kooperieren: "Wenn ich wichtige Fragen zu klären hatte und bei der Staatsanwaltschaft nicht weiterkam, machte ich das über das SED-Zentralkomitee." Eine Klärung, hofft Gysi, werde im Laufe dieser Woche erfolgen, falls die Gauck-Behörde anhand der Decknamen-Kartei die Identität des IM "Notar" feststellen kann. Zudem will der ehemalige Leiter der Abteilung XX/9 und Führungsoffizier des IM "Notar", Ex-Oberst Wolfgang Reuter, vor der Gauck-Behörde aussagen. Am Freitag voriger Woche gab Reuter eine eidesstattliche Erklärung ab, daß Gysi "nach meinem Wissen zu keiner Zeit mit dem ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit der DDR inoffiziell zusammengearbeitet hat". Gleichwohl reihen sich viele Einzelheiten aus den IM-Berichten zu einer straffen Indizienkette, die sich um den PDS-Vorsitzenden legt.

Keinen Zweifel kann es daran geben, daß die Berichte aus der Kanzlei des Anwaltskollegiums stammen, in dem Gysi tätig war. Denkbar wäre, daß Gedächtnisprotokolle, die Gysi für sich selbst gefertigt hat, von Dritten an die Stasi weitergereicht worden sind. Für Gysi ist "ganz klar, daß es in meiner unmittelbaren Umgebung etwas gegeben haben muß". In Verdacht stünden dann seine vier Kanzleikollegen. IM "Notar" müßte zudem mindestens seit Ende 1983 in der Gysi-Kanzlei plaziert gewesen sein. Aus dieser Zeit datieren Akten, die der Diplom-Physiker Gerd Poppe, jetzt Bundestagsabgeordneter des Bündnis 90/Grüne, eingesehen hat. Darin geht es um die Verhaftung seiner Ehefrau Ulrike, Mitbegründerin der "Initiative Frieden und Menschenrechte", im Dezember 1983. Die Umstände sprechen gegen Gysi. Zum einen wäre beispielsweise nicht ersichtlich, warum Gysi sich einen Aktenvermerk über ein Gespräch anlegt, in dem er den Bürgerrechtler Gerd Poppe über den Inhalt eines anderen Gesprächs informiert, das er zuvor mit Poppes Ehefrau Ulrike in der Haftanstalt geführt hatte.

Wenn Gysi sich regelmäßig schriftliche Aufzeichnungen machte, dann hatte er auch bereits Notizen über die Unterredung im Gefängnis gemacht. Logischerweise hätte es also genügt, nur noch die Tatsache zu vermerken, daß der Ehemann informiert wurde, aber es hätte nicht noch einmal der gesamte Gesprächsinhalt referiert werden müssen. Zudem müßte IM "Notar", wenn es sich nicht um Gysi handelt, über hellseherische Fähigkeiten verfügen. So wird in einem IM-Bericht über ein Gespräch Gysis mit seinem Mandanten am 29. Dezember 1983 auf ein vorangegangenes Vier-Augen-Gespräch zwischen den beiden Bezug genommen. Dabei werden detailliert die damals geäußerten Meinungsverschiedenheiten wiedergegeben. Wie nah Gysi und der IM "Notar" sich gewesen sein müssen, erhellt auch ein "Vermerk", wonach Poppe am 4. Januar 1984 "um 16.00 Uhr" eine Erklärung "bei seinem Rechtsanwalt Dr. Gysi" abgegeben hat.

Noch am selben Tag trug IM "Notar" das Poppe-Papier zur Stasi.

(Quelle: Spiegel.online 1992)


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen